Politik Hamas will Geiselgespräche «überdenken»

Nahostkonflikt - Deir al-Balah
Vertriebene Palästinenser kommen im Zentrum des Gazastreifens an, nachdem sie aus Rafah geflohen sind.

Zehntausende Menschen verlassen Rafah. Die humanitäre Lage eskaliert immer mehr. - Sind die Gespräche mit der Hamas damit beendet? Die News im Überblick.

Washington/Tel Aviv/Gaza (dpa) - Angesichts des seit Wochenbeginn laufenden israelischen Militäreinsatzes in der südlichen Stadt Rafah im Gazastreifen hat die islamistische Hamas mögliche Auswirkungen auf die indirekten Gespräche über eine Waffenruhe ins Spiel gebracht. Die israelische Regierung nutze die Verhandlungen, bei denen Ägypten, Katar und die USA vermitteln, als «Feigenblatt, um Rafah und die Grenzübergänge anzugreifen und um ihren Auslöschungskrieg gegen unser Volk fortzusetzen», hieß es in einer Erklärung, die die palästinensische Organisation veröffentlichte.

Israel hatte in der Nacht zum Dienstag einen umstrittenen Militäreinsatz gegen die Stadt an der Grenze zu Ägypten gestartet, in der sich mehr als eine Million palästinensische Binnenflüchtlinge aufhalten sollen. Bislang ging die israelische Armee vor allem in den östlichen Außenbezirken vor und besetzte das Gebiet um den Grenzübergang, der nach Ägypten führt. Die großen Flüchtlingsansammlungen und Lager waren von den Militäroperationen bisher nicht betroffen. Es herrscht allerdings die Befürchtung, dass sich dies bald ändern könnte.

Seit mehreren Monaten verhandeln Israel und die Hamas indirekt über eine befristete Waffenruhe und einen Austausch von israelischen Geiseln in der Gewalt der Hamas gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen. Die israelische Seite trage nun die «volle Verantwortung», falls die Gespräche scheitern sollten, hieß es in der Hamas-Erklärung. Die Führung der Organisation werde sich mit ihren palästinensischen Verbündeten beraten, «um unsere Verhandlungsstrategie zu überdenken».

Beobachter werteten die Erklärung als möglichen Eröffnungsschritt für einen Rückzug der Hamas aus den indirekten Gesprächen mit Israel. Auslöser des Gaza-Kriegs war das beispiellose Massaker mit mehr als 1200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten.

Drohungen aus Washington an Israel prallen ab

Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, warnen das Land eindringlich vor einem derartigen Schritt. US-Präsident Joe Biden drohte sogar mit der Beschränkung von Waffenlieferungen. Auch Deutschland sieht eine mögliche Großoffensive Israels in Rafah kritisch. Die israelische Führung will nach eigenen Angaben wiederum in Rafah die letzten dort vermuteten Bataillone der islamistischen Hamas zerschlagen.

Doch Israel will sich auch durch wachsenden Druck seines engsten Verbündeten USA nicht von seinem Kriegskurs im Gazastreifen abbringen lassen. «Wenn wir für uns alleine stehen müssen, dann werden wir für uns alleine stehen», sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in einer Videobotschaft.

Armee: Vier israelische Soldaten in Stadt Gaza getötet

Bei Kämpfen im nördliche Gazastreifen sind nach Angaben der israelischen Streitkräfte vier Soldaten getötet worden. Alle vier seien 19 Jahre alt gewesen, hieß es in der Mitteilung der Armee. Sie kamen offenbar in Al-Saitun, einem Viertel der Stadt Gaza, bei der Explosion eines Sprengsatzes ums Leben, wie der Sender Kan berichtete.

Die Armee hatte kurz zuvor Kämpfe mit der islamistischen Hamas-Miliz in Al-Saitun bestätigt, die schon die letzten Tage hindurch andauerten. Dabei seien Hamas-Terroristen getötet und von ihnen genutzte Infrastruktur zerstört worden, hieß es in der Mitteilung der Streitkräfte. In einem Schulgebäude fanden die Soldaten Waffen und Munition der Hamas. Die Angaben lassen sich bisher nicht unabhängig überprüfen.

Hamas greift erneut Grenzübergang mit Mörsergranaten an

Die Hamas griff erneut den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom an. Der militärische Arm der Terrororganisation, die Kassam-Brigaden, reklamierten den Angriff mit Mörsergranaten bei Telegram für sich. Es ist der vierte Angriff der Hamas auf Kerem Schalom seit Sonntag.

Die für Palästinenserangelegenheiten zuständige israelische Behörde Cogat schrieb: «Die Hamas hat gerade auf Kerem Schalom geschossen, den wichtigsten Übergang für humanitäre Hilfe nach Gaza.» Cogat warf der Hamas vor, sie tue «alles, um zu verhindern, dass Hilfslieferungen zu den Menschen in Gaza gelangen».

Israelische Demonstranten hatten in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder versucht, Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu blockieren. Sie argumentieren, die Lieferungen ermöglichten es der Hamas, im Krieg gegen Israel weiterzukämpfen. Es sei widersinnig, für die Versorgung des Feindes zu sorgen.

Kerem Schalom war erst am Mittwoch nach mehrtägiger Schließung wieder geöffnet worden. Nach dem Raketenangriff der Hamas am Sonntag, bei dem vier israelische Soldaten getötet wurden, war er geschlossen worden.

Derweil trainiert die israelische Armee für die Möglichkeit eines größeren Kriegs mit dem nördlichen Nachbarland Libanon. Das Militär teilte mit, im Verlauf der Woche hätten Reservisten einer Brigade verschiedene Übungen abgehalten, «um die Bereitschaft an der nördlichen Grenze zu verbessern». Ziel seien Einsatzbereitschaft und Vorbereitung «auf verschiedene Kampfszenarien».

Das in Galiläa im Norden des Landes abgehaltene Training habe Kampfsituationen im Libanon simuliert. Infanterie sowie gepanzerte Truppen hätten gemeinsam mit Soldaten von Logistik- und Kommunikationseinheiten die Zusammenarbeit in unwegsamem Gelände trainiert. Andere Truppen hätten außerdem auch mit der Luftwaffe dafür geübt, «Bodentruppen in feindlichem Gebiet rasch aus der Luft zu versorgen».

Treibstoffnotstand im Gazastreifen: Krankenhäuser vor dem Aus

Humanitäre Helfer in Rafah berichten derweil von verheerenden Zuständen. «Ich arbeite seit fast 30 Jahren bei humanitären Großeinsätzen und war noch nie in eine so verheerende, komplexe und unberechenbare Situation involviert wie diese», sagte Hamish Young, Nothilfekoordinator des UN-Kinderhilfswerks Unicef. «Die Notlage im Gazastreifen hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht», sagte der Vertreter des UN-Nothilfebüros OCHA, Georgios Petropoulos. Beide waren in Rafah und sprachen über Videolink mit Reportern in Genf.

Fünf Krankenhäuser, 17 kleinere Kliniken, fünf Feldlazarette, zehn mobile Ärzteteams und 28 Krankenwagen müssten innerhalb von 24 Stunden ihre Dienste einstellen, wenn nicht dringend benötigtet neuer Treibstoff geliefert werde, sagte Petropoulos.

Die Straßen Richtung Norden seien verstopft. Das von Israel als Sicherheitszone ausgewiesene Gebiet Al-Mawasi nahe der Küste sei völlig überfüllt. Familien buddelten Löcher neben ihren Zelten in den Boden, um ihre Notdurft zu verrichten.

Über die Grenzübergänge Rafah und Kerem Schalom kämen seit Tagen praktisch keine Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen, vor allem kein Benzin, sagte Petropoulos. Ohne das seien aber die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen nicht mehr zu befriedigen. Krankenhäuser, Banken, Kommunikationsfirmen und die Trinkwasseraufbereitung brauchten Benzin für Generatoren, um rudimentäre Dienste aufrechterhalten zu können. Die Müllabfuhr sei teilweise eingestellt worden, ebenso die Abwasserentsorgung in bestimmten Gebieten.

«Wir brauchen sofort Treibstoff», sagte Young. «Hilfe muss reinkommen. Die Geiseln müssen freigelassen werden. Rafah darf nicht eingenommen werden. Und Kinder müssen geschützt werden, nicht getötet.»

Weltsicherheitsrat verlangt Aufklärung zu Massengräbern

Der Weltsicherheitsrat in New York verlangt Aufklärung zu im Gazastreifen entdeckten Massengräbern. «Die Mitglieder des Sicherheitsrats betonten die Notwendigkeit einer Rechenschaftspflicht für Verstöße gegen das Völkerrecht und forderten, dass den Ermittlern ungehinderter Zugang zu allen Orten von Massengräbern in Gaza gewährt werden muss», teilten die Vereinten Nationen mit. Das mächtigste UN-Gremium sei über die Funde seit Ende April tief besorgt. Nahe dem Nasser-Krankenhaus in Chan Junis und dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt waren in den vergangenen Wochen Gräber mit mehreren hundert Leichen gefunden worden.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, hatte sich damals entsetzt gezeigt und eine unabhängige Untersuchung der Hintergründe der Todesfälle gefordert. Krankenhäusern komme nach dem humanitären Völkerrecht ein ganz besonderer Schutz zu. Laut Türks Büro, das sich auf Angaben des von der militanten Hamas kontrollierten Zivilschutzes berief, waren einige Leichen an den Händen gefesselt.

Von israelischer Seite hatte es geheißen, Vorwürfe, israelische Streitkräfte hätten dort die Leichen von Palästinensern vergraben, entbehrten jeder Grundlage. Israelische Soldaten hätten die Leichen in dem Grab lediglich auf der Suche nach israelischen Geiseln untersucht.

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